Mit dem Thema „Vertrauen in sozialen Systemen“ greift Walter Schwertl ein zentrales Thema menschlichen Zusammenlebens auf. Der Autor selbst blickt dabei auf ein langes Berufsleben als systemischer Familientherapeut, Business-Coach und Organisationsberater zurück und stellt in seinem Buch den Anspruch, für die Untersuchung von Vertrauen der Idee einer theoriegeleiteten Praxis zu folgen: Im Fokus steht das praktische Handeln bzw. Entscheiden, dies aber immer vor dem Hintergrund entsprechender tragfähiger Theorien. Für seine Darstellung wählt Schwertl bewusst das Format eines (bunten) Lesebuchs.
Der Position einer theoriegeleiteten Praxis folgend werden zunächst verschiedene Konzepte von Vertrauen wie beispielsweise Urvertrauen oder Weltvertrauen eingeführt. Der Schwerpunkt liegt dann aber auf dem so genannten „gerichteten Vertrauen“ – ein Begriff, der im gesamten Werk immer wieder auftaucht. Schwertl meint damit Vertrauen, das für das Treffen einer einmaligen, konkreten Entscheidung in einem spezifischen Kontext erforderlich ist. Auf wissenschaftlicher Ebene bilden soziologische Systemtheorie, Schwerpunkt N. Luhmann, und zeitgemäße Kommunikationstheorie, wie sie vor allem S. J. Schmidt vertritt, den Rahmen. Als Schlüsselargumentation durchzieht das Konzept der so genannten Kontingenz das gesamte Buch: Diese meint, dass Entscheiden oder Handeln immer auch anders sein kann als erwartet. Vertrauen wird in diesem Zusammenhang dann als Medium zur Reduktion von Kontingenz betrachtet.
Auf diese theoretischen Schwerpunktsetzungen wird im weiteren Text dann immer wieder Bezug genommen. Dabei liegt der Fokus Schwertls Analyse auf der Interaktion von bzw. der Kommunikation zwischen sozialen Akteuren (soziologische Perspektive) und nicht auf dem Individuum (psychologische Perspektive).
Im zweiten Teil seines Buches reflektiert der Autor Beispiele aus Therapie, Coaching, Familienberatung u.a. konsequent vor dem Hintergrund seines oben skizzierten Bezugsrahmens. Analog werden die Themen Führung und Management bearbeitet, als eher historische Beispiele zu Vertrauen in sozialen Systemen werden beispielsweise die Sophisten im antiken Griechenland, der Jesuitenorden oder die italienische Mafia diskutiert. Dabei wählt Schwertl für die Darstellung dieser Praxisfälle bzw. ‑beispiele ganz unterschiedliche Formen wie klassische Falldarstellung, Transkript einer Kleingruppendiskussion, Interview, Satire usw. Im letzten Kapitel erweitert Karl Müller, emeritierter Professor für Neuere Deutsche Literatur an der Universität Salzburg, das Thema um eine Sicht der Literatur(wissenschaft) auf Vertrauen und fokussiert dazu auf Brecht, Améry und viele weitere Autoren.
Trotz des insgesamt hohen theoretischen Niveaus bietet das Buch viele sehr praktische Zusammenfassungen und Empfehlungen. Es wendet sich zwar offensichtlich an Praktiker und dürfte für die Angehörigen unterschiedlichster Berufsgruppen höchst relevant sein, setzt für sein tieferes Verständnis aber eine deutliche Vorkenntnis von System- und Kommunikationstheorien voraus. Dennoch könnte die durchgängig vorhandene Verbindung von Praxisbeispielen mit entsprechenden theoretischen Fundierungen vor allem praxisorientierten Lesern einen lebendigen Zugang zu relevanten Theorieaspekten vermitteln.
Fazit: Schwertls Analyse besticht durch ihre hohe Informationsdichte. Die kaleidoskopartige Darstellung unterschiedlicher Facetten von Vertrauen (und auch von Misstrauen) sowie die Argumentation auf unterschiedlichen Abstraktionsebenen des Themas machen das Buch zu einer kurzweiligen Lektüre. Eine Leseempfehlung für alle, die in ihrem Beruf mit Fragen von Vertrauen konfrontiert sind oder sich einfach für das Thema interessieren.
Dr. Sebastian Schuh