Friedrich Glasl ist untrennbar mit dem Thema Konfliktmanagement in Organisationen verbunden. Sein gesamtes Forscherleben als Politikwissenschaftler, Friedensforscher und Organisationsentwickler widmet er diesem Thema. Sein Phasenmodell der Eskalation und Deeskalation – stark verkürzt: win-win, win-lose, lose-lose – ist weit bekannt. Bereits 1980 erschien sein Buch „Konfliktmanagement“ (2024 in 13. Auflage), 2010 erstmals das von Rudi Ballreich konzipierte Praxishandbuch. Dessen vollständig überarbeitete Neuauflage, welches aus wiederverwendeten und neuen Abschnitten besteht, wird hier rezensiert.
Das Buch versammelt auf 500 hochwertig produzierten Seiten eine tiefgehende Auseinandersetzung mit dem Thema. Eine leicht zugängliche Struktur im inhaltlichen Aufbau und im Seiten- und Satzlayout sowie ein differenziertes Sachregister machen aber auch „Seiteneinstiege“ möglich. Bemerkenswert ist der cross-mediale Content in Form von Videos, die leicht über QR-Codes aufrufbar sind.
Glasl und Ballreich legen, in Abgrenzung z.B. zu Steve de Shazer (S. 25f.), ein Kontingenzmodell für Konfliktbearbeitung vor, d.h. die „konsequente Ausrichtung aller Interventionen auf die gegebene Situation.“ (S. 28) Konflikte sind aber keine Naturobjekte, sondern psychosoziale Phänomene (S. 34), die mittels „partizipierender Bewusstheit“ (S. 37) durchdrungen sein können. Bezugspunkte sind u.a. Edmund Husserl (Phänomenologie), Rudolf Steiner (Anthroposophie) und Otto Scharmer (Theorie U). Dies liest sich sehr interessant, keineswegs theorielastig, sondern macht vielmehr deutlich, dass jede gewinnbringende Praxis sich konzeptionell zu verorten und zu verantworten hat. Gerne würde man – mit eigener konstruktivistischer Erkenntnisposition – mit den Autoren in den Diskurs über die Möglichkeit einsteigen, was denn die „unter bestimmten Bedingungen […] unverstellten Erfahrungen einer Situation“ (S. 74) sein sollten.
Keineswegs unwichtig in der Fundierung der Praxis sind auch die Abschnitte zum Organisationsverständnis, welches systemisch angelegt ist, mit Präferenz der System- als Feldtheorie (Kurt Lewin), psychische Prozesse und interpersonelle Dynamiken mitsehend. Hier schwächelt allerdings einmal die gute Aufbaulogik des Buches: Kapitel 4 („Schritte der Konfliktdiagnose in Organisationen“) wirkt an dieser Stelle wie ein Fremdkörper.
Insgesamt mag es für ein Praxisbuch überraschend sein, dass sich fast die Hälfte des Buches mit dem Verständnis von Konflikten in Organisationen befasst, aber: die Lektüre ist äußerst lohnend, auch hinsichtlich des Zugangs zum „Phänomen Organisation“.
Der zweite Hauptteil („Konflikte in Organisationen bearbeiten“) beginnt mit Praxisbeispielen und einem „Indikatoren-Kompass“ – sehr lohnenswert. Sodann werden verschiedene Anwendungsbereiche erarbeitet: Mediation zwischen einzelnen Personen, mit Gruppen und Teams, als Organisationsentwicklung, als Organisationsmediation. Obwohl sehr handlungsorientiert, geht es dabei konsequent nicht um die Präsentation von Lösungen, sondern um die Darstellung von Aufmerksamkeit, Diagnose und Intervention – eben das Management von Konflikten, die keine Stör-, sondern eine Zeigefunktion haben.
Man merkt den Autoren ihr sozialpsychologisches Interesse an Organisationen und Organisationsentwicklung an. Damit hält das Buch, was es im Titel verspricht, mag für die Coaching-Praxis aber als überqualifiziert erscheinen. Doch dem ist nicht so. Coaching ist Praxisbegleitung von Menschen, häufig in Organisationen. Und hier bietet das Buch auf ganzer Linie Haltung, Wissen und Kompetenz. Coaches sollten sich souverän in der Dynamik von Organisationen bewegen können und Unterschiede anbieten.
Fazit: Profund und ertragreich. Der nächste Konflikt als Thema im Coaching kann kommen! Nur das Miteinander zweier Autoren und das Zusammenbringen alter und neuer Texte gelingt nicht zu hundert Prozent.
Jan-Christoph Horn