Harald Geißler eröffnet sein richtungsweisendes Buch mit einer Leitfrage, die den Fokus nicht wie so oft auf ein Pro und Contra, auf Risiken und Chancen generativer KI im Coaching richtet, sondern eine praxeologische Perspektive stärkt, die Coaches zur Selbstklärung einlädt. Er fragt, „wie die Informationstechnologie der Künstlichen Intelligenz (KI) sinnvoll im und für Coaching genutzt werden kann.“ (S. 2)
Mit dem Wort „sinnvoll“ bahnt Geißler eine Reflexionsbewegung, die er dann konsequent im weiteren Gang der Darstellung durchhält und die für die konzeptionelle Ausarbeitung seines Ansatzes maßgeblich ist: „Mit ‘sinnvoll’ ist dabei zweierlei gemeint, nämlich erstens, dass die Ziele der Coachees gut erreicht werden, und zweitens, dass geprüft wird, wie weitgehend und in welcher Hinsicht diese Ziele sinnvoll sind“ (S. 2). Es geht um mehr als um Effektivität. Was für professionelles Coaching generell gilt, erhält bei der Frage nach KI-Nutzungspraxen eine besondere Bedeutsamkeit, der sich der Autor im Zuge seiner Entfaltung eines differenzierten, gleichermaßen theoretisch fundierten wie handlungsleitend ausgearbeiteten triadischen KI-Coachings zuwendet. Damit bezeichnet er ein Szenario, bei dem „drei Parteien im Spiel sind, nämlich Coach, Coachee und KI, und zwar dergestalt, dass Coach und Coachee die KI in ihren zwischenmenschlichen Dialog integrieren“ (S. 2). Es geht also auch um etwas anderes als um eine defensive Abwehr des Ersetzens von Coaches durch KI. Das Buch eröffnet vielmehr einen Möglichkeitsraum für eine erweiterte Reflexion und Praxis.
Die Entwicklung im KI-Bereich „fordert Coaching konzeptionell heraus“ (S. 15). Geißler, Pionier des Online-Coachings, emeritierter Professor für Erziehungswissenschaft an der Helmut-Schmidt-Universität Hamburg und Inhaber des Instituts Online-Coaching-Lernen, nimmt sich dieser Herausforderung an. Er entfaltet überzeugend und praktisch nach- und mitvollziehbar eine Programmatik zeitgemäßen Coachings. Zugleich ist das Buch Ausdruck eines forschenden Habitus, der die technologischen Entwicklungen im Zuge eines intensiven und interdisziplinären Fachdiskurses an bestehende Forschungs- und Entwicklungsperspektiven der Coaching-Wissenschaft und -Praxis ankoppelt. Sein Online-Format „Coaching meets AI" bietet eine kommunikative Plattform, auf der der Autor regelmäßig seine Gedanken teilt und weiterentwickelt. Das Buch ist die Fortsetzung dieses pragmatischen Weges einer Konzeptentwicklung jenseits von Unsicherheit und Euphorie.
Besonders zu würdigen ist die sorgfältige Grundlagenarbeit, die als Gelingensbedingung einer professionellen und damit sinnvollen Integration von KI in die Coaching-Praxis zu werten ist. Geißler stellt ausgehend von „technischen Grundlagen und [der] Bedeutung von KI-Coaching im Kontext der Technik- und Kulturgeschichte der Wissensvermittlung“ einen Bezug zu den „konzeptionellen Grundlagen von Coaching“ (S. 16) her und schafft dabei mit der Basisunterscheidung zwischen „Single-loop Coaching“ und „Double-loop Coaching“ die Voraussetzung für eine reflexiv-professionelle Nutzungspraxis. „Double-loop Coaching, das sich als persönlichkeitsentwicklungsbezogene Sinnklärung versteht“ (S. 52) ist dem Autor zufolge „auf menschliche Coaches angewiesen, gleichzeitig aber auch offen [...] für die Integration coachingspezifischer KI-Agenten“ (S. 17). „Single-loop Coaching“ problematisiert die Ziele des Klienten nicht. Vielmehr werden die „aktuellen Bedürfnisse und Soll-Vorstellungen der Coachees [...] als unproblematische Bezugspunkte wahrgenommen und genutzt [...], um mit Bezug auf sie zu klären, welche Tatsachen und Zusammenhänge der vorliegenden Ist-Situation problemrelevant sind und als Ressourcen für die Entwicklung zielführender Aktivitäten wahrgenommen werden können“ (S. 53). Beide Perspektiven verfolgt Geißler systematisch und praxisorientiert, indem er aufeinander aufbauende „Single-loop KI Prompts“ (S. 84ff.) und hierzu ergänzende „Double-loop KI Prompts“ (S. 97ff.) präsentiert. Das Spezifische und „[d]er spezielle Mehrwert dieser KI-Prompts besteht darin, dass sie die blinden Flecken der Single-loop KI-Prompts ausleuchten, nämlich die ihnen zugrundliegenden impliziten, d.h. nicht ausgewiesenen und nicht reflektierten Vorannahmen und Werte“ (S. 97). Hier gelingt es dem Autor, maßgebliche Logiken einer professionellen Prozesssteuerung für die Nutzung generativer KI im Coaching anschlussfähig zu machen und die Assistenzfunktion der KI konkret zu konzeptualisieren.
In den folgenden Kapiteln geht es u.a. um Verbindungen mit textlich-grafischen Coaching-Tools, immersiver Bildarbeit und Aufstellungsarbeit mit Avataren, bevor der Autor vor dem Hintergrund der vielfältigen Erkenntnisse der bisherigen Kapitel seinen Ansatz eines triadischen KI-Coachings vorstellt, bei dem „KI-Agenten mit coachingdiagnostischen Fähigkeiten“ (S. 150) ausgestattet werden. Auch hier gelingt dem Autor ein überzeugender Brückenschlag zwischen wissenschaftlichen Coaching-Erkenntnissen und einer KI-Nutzungspraxis für ein Coaching, das Resonanzräume für tragfähige Klärungs- und Lösungsprozesse entstehen lässt.
Geißler zeigt, dass eine zieldienliche Integration von KI ins Coaching nur auf einem durchdachten, reflektierten Fundament gelingen kann. Es ist eine explorative Haltung gefragt. Die Lesenden sind gefordert, sich mit neuen Vokabularen und Perspektiven auf die Coaching-Wirklichkeit auseinanderzusetzen.
Fazit: Das Buch ist allen Coaches zu empfehlen, die sich der Herausforderung einer professionellen Selbstklärung und Weiterentwicklung ihrer professionellen Handlungsfähigkeit in einer Kultur der Digitalität stellen wollen.
Andreas Broszio