Beim Stichwort „Narzisstin“ muss ich an Caro (Name geändert) denken. Gerne hat sie das Sagen. Und gerne hört sie, wie engagiert und großartig sie ist. Gerne lässt sie auf offener Bühne durchblicken, dass man selbst keine Ahnung habe. Die Zusammenarbeit mit Caro als Ehrenamtliche hat mir meistens keinen Spaß gemacht. Nun behauptet der Psychologe Klaus Eidenschink „Es gibt keine Narzissten! Nur Menschen in narzisstischen Nöten.“ Und er bietet in seinem Buch einen spannenden Perspektivwechsel auf Menschen mit narzisstischen Anteilen an.
Der studierte Philosoph, Psychologe und Theologe Eidenschink hat sich zum Organisationsberater, Coaching-Ausbilder und Exekutive-Coach entwickelt. Er ist Gründer eines Coaching-Zentrums und berät Menschen im Management von großen Konzernen und mittelständischen Unternehmen. Sein Coaching ist geprägt durch die Ausbildung und Praxis humanistischer Psychotherapieverfahren, den systemischen Ansatz und Gruppendynamik. Er kann auf zahlreiche Publikationen zurückblicken, ist gefragter Speaker sowie Interviewgast in unterschiedlichen Medienformaten. Schwerpunkte seiner Coachings sind „schwierige“ Teams sowie Konflikte.
Dem schlanken Taschenbuch mit gerade einmal 161 Seiten ist ein kurzes Geleitwort von Bärbel Wardetzki sowie die Einstimmung „Narzissmus fällt nicht vom Himmel“ des Autors vorangestellt. Die meisten der zwölf Kapitel sind als Fragen „Was muss man tun, um ...“ formuliert. Antworten werden in kurzen Unterkapiteln gegeben, die mit Praxisbeispielen, Merksätzen, Prüffragen in Boxen und Aufzählungen aufgelockert sind. Sprachlich prägnant formuliert bietet das Buch einen guten Zugang zum Thema. Den Abschluss bildet der „Ausklang: Liebe, Stolz und Not“, der Dank des Autors sowie sechs Seiten mit Literaturangaben.
In jeder Zeile des Buches kommt der konsequent konstruktivistische Ansatz Eidenschinks zum Ausdruck. Narzisstisches Verhalten sieht er, wie bereits im Titel deutlich wird, als Kompensation einer Not, die häufig biografisch entstanden ist. Inhaltlich fragt (und antwortet) er nach der Entstehung narzisstischer Not bei Kindern, wie man sich vom Narzissmus anderer verletzen lassen kann oder auch wie sich dieses Muster in Paarbeziehungen und Unternehmen auswirkt. Über die Konstruktion – so die These des Autors – lassen sich Anhaltspunkte zur De-Konstruktion von narzisstischen Mustern finden. Eidenschink adressiert auch Narzissten selbst, wenn er im neunten Kapitel fragt: „Was muss man tun, um narzisstische Not bei sich zu lindern?“ Und im elften Kapitel richtet sich der Autor an Coaches: „Was muss man tun, um narzisstische Not gut beraten zu können?“ Im Spiel von Frage und Antwort erschließt sich sukzessive das Thema und gewinnt die Form einer paradoxen Intervention.
Das Thema Narzissmus ist höchst komplex. Unterschiedliche psychologische Schulen haben je eigene Deutungs- und Verfahrensweisen zu dem Thema. Es wird seit einigen Jahren eifrig diskutiert, sogar die Zuschreibung „Narzisst“ steht auf dem Prüfstand. Eidenschink schlägt mit seinem radikal-konstruktivistischem Ansatz eine greifbare Verschiebung der Perspektive vor. Er stellt die Entstehungsbedingungen und Ausprägungen kurz und anschaulich dar – bleibt dabei einfühlsam und liebevoll mit seinem Gegenstand. Er verurteilt nicht, sondern bleibt realistisch. Denn andere lassen sich nicht ändern, nur der eigene Einflussbereich ist veränderbar. Wie gehe ich mit Menschen in narzisstischen Nöten in meiner Umgebung um? Wie mit möglichen eigenen narzisstischen Anteilen? Im Dialog auch mit (eigenen) inneren Anteilen kann ein Zugang gelingen, aus dem sich womöglich Einsicht und Veränderungsbereitschaft ergibt. Das Buch weiß geschickt zu irritieren. Bei der Orientierung ist die Frageform der Kapitel ein Clou. Hier finden die Lesenden schnell eine Antwort auf eigene Fragen an das Thema.
Fazit: Das Thema Narzissmus treibt unsere Gesellschaft um. Die Formen und Medien der Selbstdarstellung sind mehr als plural. Klaus Eidenschink verändert wohltuend die Perspektive auf das Thema. Er wählt den paradoxen Ansatz und regt zur Selbstreflexion an – Zutaten für ein gelingendes Coaching. Insofern ist diese anregende und zuweilen treffende Lektüre eine Bereicherung für jeden Coach. Irgendwie hätte ich Lust, das Buch auszugsweise mit Caro gemeinsam zu lesen. Ich würde gerne sehen, wie es bei ihr ankommt.
Torsten Ferge
Coach und Supervisor
www.ferge-coaching.de