Holger Lindemann

Das Kartenset zur Systemischen Heldinnen- und Heldenreise

Rezension von Günther Mohr

5 Min.

Auf insgesamt 86 Karten – im Format etwas größer als DIN A5 – stehen Fragen und Anregungen, die in der Metapher der Heldenreise eine Stufenfolge und unterschiedliche Aspekte bei persönlichen Entwicklungsprozessen beschreiben. Dabei werden die einzelnen Elemente sehr reichhaltig und detailliert in Fragen ausformuliert.

Es beginnt mit verschiedenen Schritten der Heldenreise, die in zehn Stufen vorgestellt werden. Die zehn Stufen bestehen aus: (1) der gewohnten Welt, (2) dem Ruf des Abenteuers, (3) der Weigerung, (4) der Begegnung mit Mentorinnen und Mentoren, (5) dem Überschreiten der ersten Schwelle, (6) den Bewährungsproben, (7) der Würdigung entscheidender Prüfungen, (8) der Belohnung, (9) dem Rückweg und (10) dem neuen Alltag. 

Zu den einzelnen Schritten werden jeweils zwischen 13 und 17 Fragen zur vertiefenden Analyse gestellt. Etwa zum Ruf des Abenteuers (Phase 2) wird gefragt: „Können Sie die inneren Stimmen, die zum Abenteuer rufen, in Ihrem Körper lokalisieren? Wo spüren Sie den Ruf?“ Hier wird bereits deutlich: In diesem Kartenset werden verschiedenste Perspektiven psychologischer Methoden kombiniert, hier Heldenreise und Embodiment. 

Ein zweiter Teil der Karten beschäftigt sich mit verschiedenen Rollen in den Heldenreisen: (1) Heldinnen und Helden, (2) Licht, (3) Schatten, (4) Heldinnen und Herolde, (5) Mentorinnen und Mentoren, (6) Schwellenhüterinnen und Schwellenhüter, (7) Gestaltwandlerinnen und Gestaltwandler, (8) Trickster. In diesen Rollen finden sich während der Heldenreise potenziell auftretende Figuren wieder.

Der dritte Teil bezieht sich auf Überzeugungen, also Leit- und Glaubenssätze. Als logische Ebenen werden hier aufgeführt: (1) Kontext, Umgebung und Rahmenbedingungen, (2) Handlungen, Verhaltensweise und Aktivitäten, (3) Kompetenzen, Fähigkeiten und Talente, (4) Rollen, Ego-States und Zugehörigkeiten, (5) Bedürfnisse, Werte und Visionen. 

Im vierten Teil werden so genannte Persönlichkeitsanteile thematisiert. Es beginnt mit „Sinne, Wahrnehmung und Perspektive“, geht über zu „Denken, Logik und Rationalität“, „Intuition, Kreativität und Vorstellungskraft“ sowie „Fühlen, Lieben und Temperament“, bis hin zu „Kraft, Gesundheit und Körperlichkeit“. Zu jedem Feld werden wieder Fragen angeboten. 

Zu guter Letzt werden noch eine ganze Reihe von Archetypen benannt: „Behütete“, „Verletzte“, „Benützerinnen und Behüter“, „Kriegerinnen und Krieger“, „Suchende“, „Schöpferinnen und Schöpfer“, „Rebellionen und Rebellen“, „Strateginnen und Strategen“, „Kritikerinnen und Kritiker“, „Weise“, „Herrscherinnen und Herrscher“, „Magierinnen und Magier“, „Närrinnen und Narren“. Dabei wird in den Fragen nach den mit dem jeweils betrachteten Archetypus vorhandenen Ego-States gefragt. Die Archetypen werden als Vorschläge für Ego-States, also innere Teil-Ich-Zustände, gewertet. 

Insgesamt enthält dieses Kartensystem also eine sehr umfangreiche Reihe von Perspektiven mit hohem Differenzierungsgrad. Ich habe die Vielzahl der Leitfragen auf den Karten nicht gezählt. Hier ist für den Anwender sehr viel Steuerung nötig. 

Ich habe das Kartenset mehrfach ausprobiert, einmal in der Arbeit mit einem Coaching-Klienten, der in einem schwierigen Entwicklungsprozess steckte, dann bei Teilnehmenden einer Coaching-Ausbildung. Die Erfahrungen mit dem Klienten haben gezeigt, dass er über die Stufen bereits eine Idee von der Gesamtheit eines Prozesses in verschiedenen Phasen und mit unterschiedlichen Emotionen darin bekam und sich auch in einer Stufe wiederfinden konnte. Die Karten habe ich dabei als Bodenanker verwandt. Hier stand die Benennung der Stufen im Vordergrund, weniger die Bebilderung der Karten. 

In der Coaching-Ausbildungsgruppe haben sich die Teilnehmenden intensiv mit der Bebilderung der Karten befasst. Dabei gab es sehr unterschiedliche Reaktionen, weil jeder Teilnehmende seine eigenen Assoziationen zu den Phasen mit den Bebilderungen verglich und es hier doch erhebliche Irritationen gab. Natürlich kann man auch Irritationen als Resultat der Abweichung von eigenen Erwartungen als herausforderndes Lernfeld betrachten. Allerdings war das Grundgenre der etwas märchenhaften Karten und die teilweise an Herr der Ringe erinnernde Darstellungsweise nicht jedermanns Sache. Im Dörflichen des Anfangs fanden sich interessanterweise ausgewiesene Städter nicht wieder. Insbesondere auch der „Rückweg“ in der Darstellung eines Ohrensessels fand nicht bei allen Anklang. Es gab die interessante Anregung, die Teilnehmenden ihre eigenen Darstellungen der zehn Phasen erstellen zu lassen. 

Im zusätzlich als Download zur Verfügung gestellten Online-Booklet wird Joseph Campbell als Urautor des Konzeptes erwähnt. Heldenreisen sind aber durchaus ein altes Darstellungsprinzip in Weisheitslehren von Religion bis Philosophien. Die griechische Mythologie, etwa Odysseus, sei hier genannt. Mir fallen auch Werke von persönlichen Entwicklungsreisen, etwa Reshad Feild „Ich ging den Weg des Derwisch“ oder Janwillem van de Wetering „Der leere Spiegel“, ein, die auch das Hin und Her zwischen den Stufen beschreiben. Insofern hat das Format Tradition. Es spricht etwas in Menschen an. Entwicklungsprozesse sind nicht linear, sondern haben Klippen und steinige Passagen. 

Einen Aspekt finde ich für das Coaching wichtig. Als Coach begegnen uns die Leute meist in einer mittleren Stufe. Sie kommen schließlich nicht im Stadium der ruhigen Idylle, sondern wenn sie sich schon in turbulentem Erleben befinden. Daher stellt sich die spannende Frage: Wo beginnt eigentlich eine Heldenreise bzw. wie endet sie? Wirklich im Lehnstuhl?

Ich selbst finde eine Verbindung des Konzeptes der Heldenreisen mit anderen neueren Persönlichkeitsentwicklungsmodellen interessant. Denn es geht um vertikales Lernen, wie es etwa im Ansatz der Entwicklungsstufen und Reifegrade des Erwachsenenalters bei Jane Loevinger und Thomas Binder beschrieben ist. 

Fazit: Insgesamt bietet das Kartenset viele Möglichkeiten des Arbeitens im Coaching. Die Bebilderung ist aus meiner Sicht mit etwas Vorsicht zu betrachten. Das muss jeder Coach, der das Set einsetzt, selbst zu vertreten wissen. 

Günther Mohr

Hofheim
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