Christoph J. Schmidt-Lellek

Ressourcen der helfenden Beziehung. Modelle dialogischer Praxis und ihre Deformationen. Bergisch-Gladbach: EHP.

Rezension von Professor Dr. Ferdinand Buer

5 Min.


Dieses Buch mit fast 400 Seiten ist etwas ganz Besonderes. Denn der Autor hat es als Dissertation in reifen Jahren geschrieben. Das hat den Vorteil, dass er in seinem Leben als studierter Theologe, Philosoph und Pädagoge, als praktizierender Psychotherapeut, Supervisor und Coach und als Redakteur ein reiches disziplin- und formatübergreifendes Wissen angesammelt hat, das sich sowohl aus wissenschaftlichen Studien als auch aus reflektierten Erfahrungen speist. Dieses Wissen musste sich also in zahlreichen Praxis- wie Diskurszusammenhängen mehrfach bewähren.
Und diesen Reichtum konzentriert er in diesem Werk auf die Frage nach der Qualität der Beziehungsarbeit professioneller Helfer/innen. Dabei geht er von der Überzeugung aus, dass sich diese Qualität als dialogische Haltung beschreiben lässt. Er geht also nicht deskriptiv vor, indem er durch empirische Forschung herausarbeitet, welche Modelle der helfenden Beziehung sich bei den Praktikern feststellen lassen. Sein Anspruch ist ein präskriptiver: Er möchte den Praktikern in einem geschichtlichen Teil verschiedene Modelle helfender Beziehung nahe bringen, die alle - mit Vor- und Nachteilen - Orientierung für die Entwicklung einer dialogischen Haltung bieten können. In einem konzeptionellen Teil möchte er grundlegende Fragen einer anspruchsvollen Beziehungsarbeit beantworten. Vor diesem Hintergrund werden in einem dritten Teil Gefährdungen und Deformationen der helfenden Beziehung behandelt. In einem Schlussteil will er Schlussfolgerungen für eine dialogische Praxis ziehen.
Im ersten Teil breitet der Autor eine Fülle von Handlungsmodellen aus: Das geht von den Geistheilern und Schamanen über die Propheten in Israel, Buddha in Indien, Sokrates und Platon in Griechenland, Jesus von Nazareth, das abendländische Christentum bis zur wissenschaftsorientierten Professionalität der Neuzeit. In postmodernem Geist möchte er damit eine Pluralität der Orientierungsmöglichkeiten vor Augen führen: Jeder Helfer möge sich ein eigenes Bild machen und das Modell (in Kombination mit anderen) wählen, das ihm zusagt. Durch seine disziplin- und formatsübergreifende Expertenschaft gelingt es Schmidt-Lellek, all diese Modelle zutreffend in knappen Strichen einleuchtend zu skizzieren. Bei aller Geschichtsgebundenheit dieser Modelle lassen sich doch Anregungen herauslesen, die auch heute noch handlungsleitend sein können. Vor diesem Hintergrund bietet er zum Schluss dieses Teils eine Helfer-Typologie an: vom Magier, über den Meister, den Prediger, den Lehrer, den Fachmann, den Katalysator bis zum Begleiter. Er überlässt es dem Leser, durch eine Auseinandersetzung mit diesen Möglichkeiten seinen eigenen, ihm angemessenen Arbeitsstil zu konstruieren.
Mit diesen Modellen der Beziehungsarbeit und dieser Typologie der Beziehungsarbeiter begibt sich der Autor auf eine Ebene, die von den konkreten Ausformungen der Beziehungsarbeit in verschiedene Formate wie Psychotherapie, Lehre, Supervision, Coaching, Consulting, Counselling etc. absieht. Damit verfängt er sich nicht in den unabschließbaren Abgrenzungsversuchen der jeweiligen Formatsvertreter/innen, sondern konzentriert sich auf das, was alle Formate wesentlich ausmachen sollte: eine dialogische Beziehungsgestaltung.
Im zweiten konzeptionellen Teil reflektiert er zunächst, wie mit Fremdheit, Pluralität und Differenz in der Beziehungsarbeit angemessen umgegangen werden kann. Dann wird die dialogische Haltung unterfüttert durch eine Auseinandersetzung mit den Konzepten von Martin Buber, Emmanuel Lévinas, Jessica Benjamin, Hilarion Petzold, Wilfried R. Bion und Dan Bar-On. Am Ende stellt er eine Qualität heraus, die professionelle Kompetenz im Kern ausmacht: eine angemessene Balancierung von Polaritäten der helfenden Beziehung, etwa zwischen Festhalten und Loslassen, Wissen und Nichtwissen, Selbst- und Fremdbezug, Objektivität und Subjektivität. Diese Balancierung muss in jeder konkreten Beziehung jederzeit neu auf je angemessene Weise hergestellt werden.
Dass dabei in der Praxis immer mal wieder Fehler unterlaufen werden, ist so gut wie sicher. Wenn das nicht rechtzeitig erkannt wird und sich Fehlhaltungen verfestigen, führt das zu Deformationen der Beziehung mit all ihren negativen Folgen nicht nur für die Klient/innen, sondern auch für die Beziehungsarbeiter/innen selbst. So befasst sich der dritte Teil mit diesen Gefährdungen: mit dem Übersehen der Grenzen durch Dogmatismus, Missionarismus, Rettungs-Utopismus, Guru-Strukturen oder Funktionalismus, mit dem Helfer-Kitsch und dem narzisstischen Machtmissbrauch.
Alle, die in Theorie und Praxis an einem dialogischen Umgang mit ihren Klient/innen interessiert sind, halten mit diesem Buch ein erstaunlich reichhaltiges Werk in den Händen: Theoretiker/innen bietet es eine Fundamentalreflexion der Beziehungsarbeit, wie sie mir bisher nicht untergekommen ist. Praktiker/innen bietet es eine gut verständliche Übersicht über auch heute noch relevante Handlungsmodelle, wie sie kaum einem anderen Autor so umfassend informiert und doch so präzise gelingen dürfte. Die Leser werden aber vor allem auf die Kernanforderung professionellen Handelns aufmerksam gemacht: auf den Umgang mit unvermeidlichen Polaritäten, von anderen Autoren Paradoxien, Antinomien, Widersprüchlichkeiten genannt. Und er zeigt auf, dass allzu bekannten Gefährdungen und Deformationen vorgebeugt werden kann, wenn man sich ernsthaft um diese Balancierung bemüht, wenn’s nicht anders geht mit Hilfe von Supervision oder Coaching.
Das Buch enthält zahlreiche Literaturhinweise zu den einzelnen Kapiteln, ein Gesamtliteraturverzeichnis von 15 Seiten und ein ausführliches Inhaltsverzeichnis, das ein gezieltes Einsteigen an verschiedenen Stellen ermöglicht. Zudem ist der Text trotz seiner hohen Reflexivität gut verständlich geschrieben, Schmidt-Lellek ist eben auch ein erfahrener Redakteur.
So möchte ich dieses ausgereifte Werk allen professionellen Beziehungsarbeiter/innen dringend ans Herz legen.

Professor Dr. Ferdinand Buer

Psychodrama-Zentrum Münster

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