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Christoph J. Schmidt-Lellek, Astrid Schreyögg

Praxeologie des Coaching. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.

Rezension von Dr. Konrad Elsässer

6 Min.

Ein Coaching-Buch mit einem anspruchsvollen Titel: Praxeologie! Also nicht nur Praktisches, Alltägliches an Erfahrung und Erleben oder Intervention, nicht nur die persönlich geprägten Handwerklichkeiten oder Handwerkeleien unterschiedlichster Coachs, sondern eine Einbettung in theoretische Perspektiven, in reflektierte Konzepte und systematisches Denken! Astrid Schreyögg weckt hohe Erwartungen an das Buch in ihrem einleitenden Artikel. Sie entwirft im ersten Kapitel Praxeologie als reflektiertes Praxiskonzept und expliziert schlüssig einerseits eine Wissensstruktur, andererseits ein integratives Handlungsmodell, die eigentliche Praxeologie. Dabei unterscheidet sie fünf Ebenen, das konkrete Handelns des Coachs, die Praxeologie, die grundlegenden methodischen Anweisungen, die Theorie-Ebene und schließlich das Meta-Modell. 

Leider werden in der Folge weder die von Schreyögg vorgegebenen Kriterien für ein transparentes In-Beziehung-Setzen dieser unterschiedlichen Ebenen erfüllt, noch ein "relationiertes Expertentum" (Maria L. Staubach) plausibel und nachvollziehbar gemacht. Stattdessen bietet sich ein bunter Blumenstrauß unterschiedlichster Artikel dar, die sich auf sehr unterschiedlichem Niveau bewegen. Nach Schreyöggs Einleitung im ersten Prolog-Teil des Buches reduziert Gerhard Jost "Sozialwissenschaftliche Methoden als Verfahren im Coaching" im Wesentlichen auf narrative Gespräche und Erzählungen und enttäuscht breiter sozialwissenschaftlich orientierte Erwartungen. 

Marion Jonassen schreibt über "Wirkungsvolles Coaching", um dabei vor allem die neueren Untersuchungen von Hansjörg Künzli mit den älteren, theoretisch nicht sehr stringenten Wirkprinzipien von Klaus Grawe (1994), mit dem Rubikon-Modell (Heckhausen & Gollwitzer) und einigen neueren neurowissenschaftlichen Erkenntnissen durchzumischen - ein ziemlicher Eintopf unterschiedlichster Elemente von Theorie und Praxis, der zu guter Letzt auch noch auf Demo-Beratungsfälle unterschiedlicher (Star-) Coachs ausgeteilt wird. 

Im zweiten Diagnose-Teil überwiegt dann in vielen Kapitel ein Referieren meist älterer Literatur aus Soziologie, Psychoanalyse, Aufstellungsarbeit und Organisationsentwicklung. Schmidt-Lellek versucht Charisma und Macht als "Führungseigenschaft" (sic, Eigenschaft!) zu diagnostizieren und repliziert vor allem die altbewährte Narzissmus-Theorie. Wolfgang Rechtien schreibt zu "gruppalen Settings" und offeriert als theoretischen Rahmen Altmeister wie Allport und Lewin oder auch sich selbst, nicht jedoch einen so grundlegenden Gruppen-Theoretiker wie Max Pagès. Bettina Warzecha überhebt sich mit der "Problematik der Übertragung systemtheoretischer Beschreibungen auf Organisationsberatungskonzepte" und baut mit Luhmann einen Popanz gegen Luhmann ("Thematisierung von Werten") auf, ohne ihn oder seine Schüler (wie Willke, Baecker, Stehr) und die Entwicklungen in der Systemtheorie aufzugreifen. Einzig Schreyögg liefert auch in diesem Teil wieder einen erfrischend klaren Beitrag zu Familienkonstellationen im Coaching. 

Der dritte Teil des Buches stellt "spezifische Verfahren" zur Förderung von Individuen oder auch Systemen vor. Der hier vorliegenden Auswahl von Spezifika fehlt jedoch ein roter Faden oder eine inhaltlich konzeptionelle Verbindung gänzlich. So ist es eine bunte Mischung, teils ärgerlich, teils gut zu lesen. Lilo Endriss präsentiert "Klienten im Flow", konterkariert aber ihr Thema komplett, indem sie ein in die Jahre gekommenes Handbuch der Kreativ-Methoden von Joachim Sikora von 1976 ausweidet und daraus ausführliche "Handlungsrichtlinien" (sic, Richtlinien!) für Rahmen und Inhalt von Coaching-Sitzungen zusammenstellt; eine peinlich anmutende, unnötig belehrende Zusammenstellung von Allgemeinplätzen. Überdies fügt sie noch sieben Punkte an, "was der kreative Coach vermeiden soll" und quält mit systematischem Perfektionismus jeden Flow und jegliche Kreativität zu Tode. 

Anders der Beitrag von Jasmin Messerschmidt über imaginatives Rollenspiel: Eine sorgfältig gearbeitete und flüssig geschriebene, wenn auch inhaltlich nicht irgendwie neue oder sonstwie bedeutsame Falldarstellung unter Einsatz der Stuhlarbeitsmethode (abwechselndes Rollenspiel auf zwei Stühlen). Inés Cremer-v. Brachel stilisiert die psychodramatische Organisationsskulptur um zu einer "Weiterentwicklung des Organigramms", und bezieht sich in ihrer Falldarstellung auf eine Supervisionsgruppe - ein absolut beliebiger Beitrag, bei dem man sich verwundert fragt, warum er in die Sammlung aufgenommen wurde, aber freilich auch, was der Nährwert dieses aus Supervision, Coaching und Organisationsentwicklung zusammengerührten Breis sein soll? Der nächste Beitrag von Mohammed El Hachimi und Arist von Schlippe zu "Crea-Space" kombiniert Open Space (nach Harrison Owen) mit der Zukunftswerkstatt (von Robert Jungk und Norbert R. Müllert) und gehört in den Bereich OE. Christoph Schmidt-Lellek stellt mit den "vier Dimensionen des Tätigseins" (Arbeit, Interaktion, Spiel, Kontemplation) ein Modell zur "Work-Life-Balance" vor und bezieht sich dabei auf Martin Seels "Versuch über die Form des Glücks": Seltsam ambivalent, weil er einerseits den Begriff "Work-Life-Balance" zutreffend problematisiert, ihn andererseits zugleich beibehält und substituiert. Manuel Barthelmess erläutert systemisches Coaching als Kunst - nicht in dem grundlegenden Verständnis von "jeder Mensch ist ein Künstler" (Joseph Beuys), sondern in der sorgfältigen und differenzierten Zusammenführung von Aufmerksamkeitsfokussierung, Narrationen und Kontextgestaltung. Damit stellt der Beitrag von Barthelmess m.E. den Höhepunkt in diesem Teil der Praxeologie dar. 

Deren vierter und letzter Teil thematisiert "neue Felder, neue Themen", wobei die Neuartigkeit nicht irgendwie theoretisch oder konzeptionell begründet wird. Drei Falldarstellungen beziehen sich auf spezielle Organisationskulturen von Coaching-Kunden, auf Journalisten, auf eine Wirtschaftskanzlei, auf Hochschullehrer/innen. Ein Beitrag von Constanze Sigl führt ein "Fachcoaching" für Zeit- und Selbstmanagement aus, wobei nicht nachvollziehbar bleibt, weshalb für die hier vorgelegte Falldarstellung der Begriff "Fachcoaching" bemüht werden muss. Der Beitrag von Bertram Wolf "Die letzten hundert Tage" beschließt die Textsammlung mit einem passenden Sujet. Wolf gelingt ein Kabinettstück, nämlich eine authentische und zugleich "dichte Beschreibung" (Clifford Geertz) subjektiven Erlebens, aber auch eine sorgfältige Reflexion dieser wenig beachteten Positionsveränderungen in der Organisationskultur. Coaching kann nicht nur die Integration, sondern eben auch die Dissoziation von Leistungsträgern in einer Organisation wirkungsvoll unterstützen. 

Für die weitere Coaching-Forschung ergibt sich aus diesem Band sozusagen direkt die Anregung zu einer zweiten, inhaltlich veränderten "Neuauflage" einer Praxeologie: Wenn der einleitende Artikel des jetzigen Bandes als Grundlage genommen würde, wenn also Autorinnen und Autoren sich auf den Theorie-Ansatz von Schreyögg einlassen, und diesen auf eigene Praxis hin umsetzen und reflektieren würden, könnte eine außerordentlich spannende und ertragreiche Sammlung entstehen, die eine konzeptionelle Brücke zwischen Praxis und Theorie bildet, und die die Standards der Profession Coaching (vgl. “Coaching als Profession”, Kompendium mit den Professionsstandards des DBVC) weiter entwickelt. Aber ein solches Projekt lässt sich wohl kaum realisieren, wenn nicht Autorinnen und Autoren vor einer Veröffentlichung ihre Praktiken, Falldarstellungen, Methoden und Theorien auf ein integratives Handlungsmodell miteinander diskutieren und abstimmen.

Dr. Konrad Elsässer

Senior Berater, Schwertl & Partner, Frankfurt am Main
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